5 Fragen an Svenja Leiber zu Kazimira

Beitrag zu 5 Fragen an Svenja Leiber zu <em>Kazimira</em>
2019 waren Sie am Schauplatz des Romans im Gebiet Kaliningrad. Was hat Sie dorthin geführt?

Mein Schreiben ist eng an die tatsächliche Umgebung der Roman-Handlung gebunden. Gerade bei historischen Themen beschäftigt mich die Frage, wie Vergangenheit überdauert – in der Natur, in den Pflanzen, im Boden, in den Sedimenten. Ich muss mich einmal selbst durch die Landschaften, in die ich meine Figuren hineinerfinden will, bewegt haben, wenigstens teilweise, um das Verhältnis von Gelände und Himmel zu kennen beispielsweise oder um halbwegs zu wissen, wie es sich in so einer Landschaft steht und geht. Bei einem Roman wie Kazimira, der unter anderem von einer Grabung, einer Grube handelt, war es für mich unerlässlich, vor Ort zu sein, den heutigen Tagebau zu sehen, die Architektur der Ortschaften, diese Mischung aus mittelalterlicher, altdeutscher, sozialistischer und neurussischer Bauweise. Genauso aber den Strand, die Reste der »Anna-Grube«, die Steilküste und dieses beeindruckende Phänomen, dass an manchen Strandabschnitten unentwegt Bernstein angespült wird. Außerdem wollte ich Menschen kennenlernen, die jetzt im Gebiet Kaliningrad leben und arbeiten.
 

Schwarz-Weiß-Bild einer Grube in Kaliningrad zu »Kazimira« von Svenja Leiber

Schwarz-Weiß-Bild eines Tagebaus in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


Wie sind Sie überhaupt auf die »Anna-Grube« in Jantarnyj aufmerksam geworden?

Ich hatte stundenlange Interviews mit einer alten Landarbeiterin aus meinem Kindheitsdorf in Schleswig-Holstein auf Band und wollte eigentlich über die soziale Trennung zwischen Landarbeiter:innen und Landbesitzer:innen in einer Vierzig-Seelen-Gemeinde schreiben. Da meine Interview-Partnerin ursprünglich Ostpreußin war, habe ich jedoch angefangen, mich stattdessen mit der Geschichte Ostpreußens zu beschäftigen. In einem Buch des Historikers Andreas Kossert stieß ich dann auf die tragische Geschichte der alten Grube, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von dem jüdischen Unternehmer Moritz Becker gegründet worden war.
 

Schwarz-Weiß-Bild einer Düne zu »Kazmira« von Svenja Leiber

Schwarz-Weiß-Bild einiger Häuser in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


Vor mittlerweile mehr als 75 Jahren ermordeten die Nationalsozialisten vor der »Anna-Grube« mindestens 3000 Frauen und Mädchen – in Ihrem Beitrag im Logbuch Suhrkamp berichten Sie, dass dieses Massaker ein Anlass war, den Roman Kazimira zu schreiben. Was genau hat Sie daran interessiert?

Interesse ist das falsche Wort. Es war die ins absolute Extrem gesteigerte Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, die mich beschäftigte. Die Nazis hatten nicht nur den Mord an diesen Menschen im Sinn, sondern kamen auch auf die obszöne Idee, die jüdischen Frauen in der alten »jüdischen« Grube einzumauern. Im Essay über die Frage des Antisemitismus der französischen Rabbinerin und Autorin Delphine Horvilleur stieß ich zudem auf den Begriff nekeva, welcher im Hebräischen gleichermaßen für das Weibliche wie auch für die Höhle steht … Ich hatte nie vor, über das Massaker selbst zu schreiben. So etwas ist kein Stoff für Fiktionen. Es gibt Berichte von Augenzeug:innen. Der Roman handelt also nicht von den Opfern selbst und auch nicht von dem Massaker. Er ist eher eine Art Mahnung zum Andenken, indem ich noch einmal beinahe 70 Jahre zurückgehe, ins 19. Jahrhundert, die Gründungszeit der Grube, und von dort aus Geschichten von Frauen schildere – Frauen, die jede auf ihre Weise Gefährdete sind, weil sie aus verschiedensten Gründen nicht der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Norm entsprechen. Es ging mir darum, die Widerständigkeit von Frauen und Mädchen zu beschreiben, die sich gegen patriarchale Gewalt und Enge wenden.
 

Schwarz-Weiß-Bild von Plattenbauten in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber

Schwarz-Weiß-Bild eines Backsteinhauses in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


Der historische Hintergrund Ihres Romans – der Aufbau der ertragreichsten Bernsteingrube der Geschichte, aber auch die Untaten der Nationalsozialisten in Ostpreußen – liegt lange zurück. Welche Spuren der Vergangenheit sind Ihnen bei Ihrer Reise begegnet?

Tatsächlich lassen sich das Gebiet Kaliningrad und auch viele angrenzende polnische Landschaften teilweise wie ein Geschichtsbuch lesen. Während auf der Nehrung noch Reste heidnischer Kultur zu finden sind, die die gewaltsame Kolonisierung durch die Deutschritter im Mittelalter überdauert haben (wenn auch nur symbolisch), gibt es ebenso Spuren der Gewalt im Namen des Christentums in Form riesiger Backsteinkirchenburgen, Reste verschiedenster Wehranlagen, Hitlers »Wolfsschanze«, verrottende Herrenhäuser, die von der Geschichte der Junker und Großgrundbesitzer erzählen, Backsteinhäuser neben Plattenbauten, russische Holzhäuser neben verfallenen gotischen Kirchen, auf denen überall Störche nisten, alte Alleen, die im Nichts enden, neue Alleen, die zu gigantischen, nagelneuen Feriensiedlungen führen … Es ist sehr merkwürdig zu erleben, wie sich in diesem so dünn besiedelten Gebiet so zahlreiche Zeugnisse deutscher Kriege und europäischer Politik niedergeschlagen haben.
 

Schwarz-Weiß-Bild eines Blechunterstandes in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber

Schwarz-Weiß-Bild einer Straße in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


Vor diesem Hintergrund: Wer ist Kazimira?

Kazimira ist eine Figur, die sich gegen gesellschaftliche Normen stellt. Obwohl sie, wie ihr Name eigentlich sagt, nicht mehr als Frieden einfordert, oder auch, einfach in Frieden gelassen zu werden. Sie ist die Vorgängerin einer ganzen Reihe von sehr unterschiedlichen Frauen und Mädchen, ist also quasi die äußerste Matrioschka, aus der bis in die Gegenwart immer neue, mehr oder weniger widerständige Gestalten hervorgehen.
 

Schwarz-Weiß-Bild von Strommasten in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber

Schwarz-Weiß-Bild von einem verlassenen Gebäude in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


In Kazimira erzählt Svenja Leiber anhand der Schicksale zweier Familien vom größten Bernsteinabbau der Geschichte an einem abgelegenen Ort am Baltischen Meer. Der Fokus liegt auf den weiblichen Mitgliedern der Familien, denen der Roman über fünf Generationen folgt. Im Mittelpunkt: Kazimira und ihr Ringen um Selbstbestimmung. Heute ist das Bernsteinwerk Jantarnyj ein eben vor dem Ruin geretteter Tagebau, eine Grabungswildnis, traumatisierte Natur und vielleicht ein Symbol für postnationalsozialistische, postsowjetische, postökologische Gegenwart.


Schwarz-Weiß-Bild von einem Strand in Kaliningrad zu »Kazmira« von Svenja Leiber


Alle Fotos: © Svenja Leiber

Weitere Informationen zum Buch

Kazimira

12,00 €
12,00 €
SVENJA LEIBER IM LOGBUCH SUHRKAMP

Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte, debütierte 2005 mit dem Erzählungsband Büchsenlicht, 2010 folgte der Roman Schipino. Im Suhrkamp Verlag erschien 2014 Das letzte Land, 2018 Staub und 2021 Kazimira. Svenja Leiber lebt und arbeitet in Berlin und Schleswig-Holstein.
Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Philosophie,...