7 Fragen an Deniz Utlu zu Vaters Meer

Beitrag zu 7 Fragen an Deniz Utlu zu <em>Vaters Meer</em>

Welche Rolle spielt das Meer im Leben von Yunus’ Vater?

Zeki wächst in Mardin auf, jener mystischen Stadt am Ausgangspunkt der mesopotamischen Tiefebene. Die fĂĽnftausend Jahre alte Stadt aus Stein liegt am Hang eines Berges – jedes Fenster, jede Terrasse ist ausgerichtet auf die Weiten Mesopotamiens. Das Meer von Mardin kennt kein Wasser. Zeki begegnet dem Meer das erste Mal, als er in Istanbul fĂĽrs Studium am HaydarpaĹźa Bahnhof aus dem Zug steigt – jener berĂĽhmte Bahnhof, der ein Geschenk Kaiser Wilhelms ans Osmanische Reich war, und wo auch die Arbeitenden aus Anatolien ankamen, die nach der Ratifizierung des deutsch-tĂĽrkischen Anwerbeabkommens im Jahr 1961 auf dem Weg nach Deutschland dort umsteigen mussten. Zeki weiĂź nicht, dass er wenige Jahre später genau hier als Leichtmatrose anheuern und so die TĂĽrkei fĂĽr immer verlassen wird. FĂĽr Zeki ist das Meer ein Ursprung, der Beginn vieler Reisen. Vielleicht auch eine RĂĽckkehr. Diesen Bezug zum Meer gibt er auch an Yunus weiter. 

Der Arbeitstitel des Romans lautete »Ursprung«. Allerdings nicht Ursprung im Sinne von Herkunft, sondern Ursprung als der Anfang von allem. Das Meer im Titel geht auf diesen Ursprung zurück. Es fasziniert mich, dass sich die Wassermenge auf der Erde seit ihrer Entstehung kaum verändert hat. Auch das Wasser, das wir in uns tragen, war einmal woanders auf dieser Erde, womöglich in einem anderen Menschen. Wir sind das Meer. Yunus, Zekis Sohn, der diese Geschichten erzählt, sagt: Ich trage das Meer in meinem Namen.

Das Meer darf eine Metapher fürs Erzählen sein. Jedes Erzählen eine Welle, die zusammen das große Meer der Erzählung ergeben.

Boot im Hafen von Istanbul, 2022. Copyright: Deniz Utlu
Istanbul, 2022.
 

Istanbul, Kızkalesi, Mardin – was verbindet die drei türkischen Städte, in denen Ihr Roman spielt, und was unterscheidet sie?

Kızkalesi ist ein Sommerort am Mittelmeer. Das Wort Kızkalesi bedeutet übersetzt »Mädchenburg«. Denn mitten auf dem Meer findet sich eine Burg aus byzantinischen Zeiten. Hier soll einmal ein König versucht haben, seine Tochter vor dem prophezeiten Tod zu schützen. Vergeblich.

Mardin liegt nahe der syrischen Grenze. Eine der ältesten Städte der Menschheitsgeschichte. Von den Sumerern bis zum frühen Christentum haben viele Kulturen hier ihre Spuren hinterlassen.

Istanbul ist eine zweitausend Jahre alte Stadt und wäre die älteste Hauptstadt der Welt, wenn sie das geblieben wäre.

Die drei Orte weisen unverkennbare, nahezu einschüchternde Spuren der Menschheitsgeschichte auf. Vielleicht wie die Figuren in diesem Roman, insbesondere Zeki. Große historische Geschehnisse haben sich in seiner Person und seinem Körper festgeschrieben: Die Pest in Bagdad im 19. Jahrhundert, die seinen Urgroßvater hat nach Mardin kommen lassen, die Prinzipien Atatürks, die er nach der Gründung der Türkischen Republik gelehrt bekommt, die Hochphase des Kinos und die Mode Hollywoods, die Putsche von 1960 und 1980, das Nachkriegsdeutschland, Ölkrise, Arbeitsmigration – eine ganze Kulturgeschichte, erlebt über die Bewegung und Ruhe, die Mühen und das Fallen eines Menschen, Zeki.

Zeki und Yunus wussten nicht, dass sie auf verscharrten Leichen liefen, als sie die Mädchenburg in Kızkalesi besichtigten, aber sie taten es.

Im Übrigen hat sich Mardin seinen Namen bewahrt, während die umliegenden Dörfer und Ortschaften immer wieder neue Namen bekommen haben. Das passt zu den alten Steinen der Stadt, denn allzu oft wird in der Türkei das Alte zerstört – man denke an den Staudamm in Hasankeyf, hier wurden die einzigen Relikte der artuqidischen Dynastie, die außerhalb Mardins überhaupt noch zu finden sind, einfach unter Wasser gesetzt. An einer Stelle im Roman denkt Zeki Folgendes, vor dem Opernhaus in Hannover stehend – ein weiterer zentraler Ort des Romans: » … jedes Mal noch beeindruckte ihn, dass dieses Haus vollständig neu aufgebaut worden war, in seinem Land zerstörten sie, was alt war, hier bauten sie es wieder auf: Zwei Wege das Gedächtnis auszulöschen, dachte er, zwei Wege, so zu tun, als wäre nichts geschehen.«
 

Mardin, 2022. © Deniz UtluMardin, 2022.

Staatsoper Hannover, 2023. © Deniz UtluStaatsoper Hannover, 2023.

In Vaters Meer rekonstruiert Yunus die Migrationsgeschichte seines Vaters, der in den Sechzigerjahren nach Deutschland kommt. Wovon träumt Yunus’ Vater Zeki? Und was führt ihn nach Deutschland?

Yunus glaubt, nichts über seinen Vater zu wissen. Seit seinem dreizehnten Lebensjahr kann sein Vater nicht mehr sprechen. Und doch begibt er sich auf die Suche nach ihm in seinen Erinnerungen. Die eine Erinnerung führt zur nächsten, auf ein Bild folgt das nächste. Bald bemerkt Yunus, dass er sich geirrt hat, dass es viele Erinnerungen an seinen Vater gibt, dass er viel über diesen Mann weiß, von ihm gelernt hat. Je mehr Erinnerungen er wachruft und je mehr er sich an die Erzählungen des Vaters erinnert, desto stärker macht sich ein Gefühl breit, dass nicht die Inhalte des Erzählten ihm seinen Vater nahebringen, sondern die Art des Erzählens. Ohne, dass das Yunus bewusst gewesen wäre, war er als Kind, den Erzählungen seines Vaters zuhörend, Zeuge einer oralen Erzähltradition geworden, die der Vater aus seiner Stadt Mardin mit nach Hannover gebracht hatte. Yunus’ Versuche sich zu erinnern, kippen immer mehr in eine Fabulierlust, erst in der Fiktion findet er eine Wahrheit seines Vaters, im Erzählen. Er erfindet seinen Vater, und so entsteht ein Zeki, der ein anderer ist als sein leiblicher Vater, der ihm diesen aber näherbringt. Vielleicht ist genau das etwas, was Literatur vermag.

Hamburg, 2021. © Deniz Utlu
Hamburg, 2021.
 

Nach den Schlaganfällen leidet Zeki am Locked-in-Syndrom: Er ist fast vollständig gelähmt und kann nur noch mit Augenbewegungen kommunizieren. Wie und wo haben Sie dazu recherchiert?

Ich kenne das Locked-in-Syndrom aus meiner Familie, es war etwas, das mein Leben lang präsent gewesen ist. Das Thema hat mich so gepackt, dass ich zwei Semester Gehirnanatomie studiert habe, parallel zu meinem eigentlichen Studium. Literarisch waren es Jean-Dominique Baubys Schmetterling und Taucherglocke sowie Dumas’ Der Graf von Monte Christo, über die ich mich dem Thema angenähert habe. Es gibt wenige Romane über das Locked-in-Syndrom. Bei Dumas ist es nur eine Randfigur. Ich möchte mit meinem Buch einen nächsten Roman zu diesem Thema anbieten.
 

Was ist Männlichkeit für Zeki, und wie unterscheidet sich sein Rollenverständnis von dem seines Sohnes?

Männlichkeit ist ein wichtiges Thema in diesem Roman. Yunus arbeitet sich an der Männlichkeit seines Vaters ab, auch an seinen eigenen Projektionen, denn sein Vater war aufgrund der erlittenen Schlaganfälle körperlich nicht mehr für ihn da, als er begann, seine Männlichkeit zu entdecken. Diese Abwesenheit ist nicht zu unterschätzen für die Entwicklung seiner eigenen Männlichkeit. Büchern, Lehrern, Freunden, Geliebten und flüchtigen Begegnungen kommt plötzlich ein großes Gewicht zu.

Der Vater, den Yunus erfindet, hat an Einsamkeit gelitten, hat die Kosten der Migration, aber auch eines überzogenen Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins, wie es vom ältesten Sohn der Familie erwartet wird, teuer bezahlt, hat eine erste Ehe hinter sich, an der er fast zerbrochen ist und eine Sehnsucht nach einer Tochter, zu der er nicht kann. Er ist jemand, dem die Begegnungen mit Menschen, auch Liebschaften, Lebenskraft geschenkt haben. Aber er ist auch hart, flucht laut und kann roh wirken. Auf der Suche nach der eigenen Männlichkeit erkennt Yunus, dass es dabei nicht darum geht zu kategorisieren und abzugrenzen, sondern zum weichen Kern vorzudringen. Und schließlich von diesem Kern ausgehend die Einwirkungen der Außenwelt auf einen selbst zu begreifen.

Dia-Aufnahme, vermutlich Ende der 1980er. © Deniz Utlu
Dia-Aufnahme, vermutlich Ende der 1980er.
 

Vaters Meer ist Ihr dritter Roman. Wie lange haben Sie daran gearbeitet?

Ich habe ein Dokument auf meinem Computer aus dem Jahr 2008. Hier erzähle ich ein Märchen über den großen Raub an Zekis Vater. Diesen Text habe ich nicht in den Roman aufgenommen, aber die Inhalte schon. Ich kann, glaube ich, wirklich sagen, dass mich dieser Roman schon mein halbes Leben lang beschäftigt. Der Gedanke macht mich manchmal fassungslos.
 

Arabisch, Türkisch, Aramäisch, Kurdisch, Deutsch – im Laufe seines Lebens wird Zeki immer wieder mit neuen Sprachen konfrontiert. Welche Bedeutung spielt Sprache in Vaters Meer, für Zeki und für seinen Sohn Yunus?

Zeki und Yunus teilen einen Zugang zu Sprache, der polyglott ist. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie ihre heftigsten Erlebnisse nicht in der Sprache ihrer Mütter mit sich verhandelt haben. Es gibt eine Sprache hinter der Sprache, eine Universalsprache, die Muttersprache aller Dichtenden, wenn man so will, dort, im Resonanz- und Bedeutungsraum dieser Sprache, trifft Yunus auf seinen Vater. Und erzählt. Von dort aus überwindet er in der Begegnung mit seiner Mutter eine Sprachlosigkeit und ein Nicht-Verstehen-können, die Mutter und Sohn voneinander getrennt haben, sodass eine echte menschliche Begegnung zwischen den Generationen, jenseits der Rollen, möglich wird.

Mardin, 2022. © Deniz Utlu Mardin, 2022.

Alle Fotos: © Deniz Utlu

Der neue Roman von Deniz Utlu

Vaters Meer
Broschur 13,00 €
eBook 21,99 €
»Dieses Buch hat mein Herz gebrochen und wieder zusammengeflickt. Die Figuren und die Sprache, sie werden mich für immer begleiten.« Fatma Aydemir

Vaters Meer erzählt von einem Schicksalsschlag, der eine ganze Familie trifft, von einer Vater-Sohn-Beziehung, die abrupt endet, von Migration und Zugehörigkeit. Deniz Utlu zeichnet die unerwarteten Wege des Lebens wie der Erinnerung nach. Sein Roman zeugt von der Kraft des Erzählens – die dann am deutlichsten wird, wenn die Sprache das Letzte ist, was einem bleibt.

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman, Die Ungehaltenen, erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen. Außerdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse. Für seine Arbeit wurde er...

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und...