Valzhyna Morts Musik für die Toten und die Auferstandenen, Ben Lerners No Art und Pier Paolo Pasolinis Nach meinem Tod zu veröffentlichen zählen zu den Lyrik-Empfehlungen des Jahres 2022.
In der Empfehlung von Morts Musik für die Toten und die Auferstanden schreibt die Lyrikerin und Prosaautorin Kerstin Preiwuß: »Mit ihren parallel auf Englisch und Belarussisch geschriebenen Gedichten beschwört Valzhyna Mort einen Vorstellungsraum, in dem Erinnerung die Wahrnehmung bestimmt und mächtiger wirkt als die Einbildungskraft. Geknüpft sind sie an das Land Belarus, ›in dem jede Grube, jeder Hügel verdächtig ist‹ und aus dem die in den USA lebende Dichterin stammt. Was hier namenlos im Boden liegt, wird zum Schreibgerät für Schultafeln. Musik für die Toten und Auferstandenen versammelt Klagelieder individueller wie kollektiver Trauer und überführt diese in den europäischen Gründungsmythos. Statt eines Stiers erscheint ein trojanischer Bison der Geschichte, osteuropäische Perspektive rückt über die Distanz des Englischen ins globale Bewusstsein. Wovon diese Gedichte sprechen, worum sie wissen, geht ausnahmslos alle an. Das ist unbequem, aber aktueller denn je.«
Lerners No Art wird vom Literaturwissenschaftler und Übersetzer Christian Metz empfohlen: »Ben Lerners Werdegang wirkt, als wäre er aus dem Grundbuch des amerikanischen Traums entnommen. Lerner stammt aus Topeka, einer Kleinstadt in Kansas. Seine literarischen Fähigkeiten führten ihn erst auf eine Eliteuniversität, dann nach New York City. Inzwischen gehört er zur ersten Reihe amerikanischer Publizisten, Romanautoren und Lyriker. No Art versammelt in einem großen Wurf alle seine bisherigen Gedichtbände. In ihnen reiben sich die Impressionen des gemächlichen Topeka mit den Eindrücken der Ostküsten-Metropole, wird die amerikanische language poetry mit Einflüssen von Novalis, Schlegel und Benjamin durchwirkt. Lerners Verfahrenspoesie basiert u. a. auf der Adaption physikalischer Konzepte: ›Mean free paths‹ bemisst in der Physik jene mittlere Strecke, die ein Teilchen hinter sich bringt, ohne mit einem anderen zusammenzutreffen. Lerner lässt in seinem gleichnamigen Zyklus Wörter wie Elementarteilchen kollidieren. Seine intellektuelle Beweglichkeit hat seinen Übersetzer Steffen Popp, der für einen der Bände die Expertise von Monika Rinck einbindet, zu Höchstleistungen getrieben. No Art eröffnet ein unendliches Lesevergnügen.«
Nico Bleutge, Lyriker und Kritiker, schreibt über Pasolinis Nach meinem Tod zu veröffentlichen: »Rom, Ende der 1950er Jahre, die Ewige Stadt als ›alt / und immer unbarmherzig neu‹. Tag für Tag durchstreift Pier Paolo Pasolini seine Metropole, wandert durch Trastevere, fährt mit dem Bus zum Friedhof Campo Verano, läuft zum Straßenstrich an den Caracalla-Thermen, erkundet überall die Spuren des Lichts, Mauerreste, Neubauten, verfallene Villen, Armut, ›das Chaos der Stadt, in der weißen / Morgensonne‹. Die Atmosphäre, die sozialen Brüche und seine politischen Analysen schreibt er nicht nur Filmen ein, sondern verwandelt sie zugleich in Verse. Theresia Prammer hat diese Späten Gedichte in jahrelanger Arbeit grandios übersetzt und zu einem schillernden Buch komponiert. Als würde Proust das Kino entdecken, taucht sie mit Pasolini ein ›in die dunklen / Gänge der Erinnerung‹, fährt seine freien Rhythmen nach und findet klangstarke Entsprechungen für sein Spiel mit dem hohen Ton und seine immer wieder harte Sprache.«
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die Stiftung Lyrik Kabinett und das Haus für Poesie präsentieren in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband und dem Deutschen Literaturfonds einmal jährlich eine Empfehlungsliste von Lyrik-Neuerscheinungen. Die zehn Jurymitglieder wählen deutschsprachige und ins Deutsche übersetzte Gedichtbände aus, die sie für besonders empfehlenswert halten. Die ausgewählten Werke werden zum Welttag der Poesie am 21. März in zahlreichen Buchhandlungen präsentiert.