Eugenijus Ališanka über osteuropäische Literatur

Eugenijus Ališanka erinnert sich an seine Jugend in Vilnius, spricht über das Arsenal seiner Identitäten, über die Unbestimmtheit und Unwirklichkeit Osteuropas, über die ewigen Verlierer und Versager sowie von seltenen Mücken- und Krötenarten.


Ich erinnere mich daran, dass im Vilnius meiner Jugend Kriege zwischen Strassen und Stadtvierteln ausgetragen wurden und ich deshalb der Gefahr ausgesetzt war, allein wegen meines Wohnsitzes Schaden zu nehmen, selbst wenn ich mich an diesen Kriegen gar nicht beteiligte. Der Frage der Identität konnte man nicht entgehen, schon gar nicht, wenn man mit Fäusten konfrontiert war. Eine scheinbare Selbstverständlichkeit wurde in kritischen Momenten zu einer Frage. Nicht selten musste ich sie beantworten, indem ich die Beine in die Hand nahm. Nicht immer gelang mir die Flucht, doch waren es jene Momente des Misslingens, die mein Bewusstsein entscheidend geprägt haben. Mein Verständnis davon, wo mein Platz war und was meine Identität.

Ich war ein »Dzierzynskier« [1], ein »Žaibaier« [2] und an der Universität dann endlich auch ein ganzer Vilniuser. Natürlich war ich auch Litauer, aber diese Zugehörigkeit spielte im Alltagsleben unseres Innenhofs keine Rolle, sie machte sich erst später bemerkbar, im Kontext der russischen Okkupation. Oder, sagen wir, in jenen Momenten, da mich beim Wehrdienst in der sowjetischen Armee mein unmittelbarer Vorgesetzter als »Waldbruder« bezeichnete. Am schwersten fiel es mir, ein graschdanin SSSR, ein Bürger der UdSSR, zu sein:

Es war eine aufgestülpte Identität, wie klirrende Ketten, die ich bis ins Jahr 1990 hinter mir her gezogen habe. Durch Litauens zurückgewonnene Unabhängigkeit war ich im wahrsten Sinne des Wortes dazu gezwungen, das Arsenal meiner Identitäten zu überprüfen.
Ein unbestimmtes europäisches Gefühl, das bis dahin latent im Verborgenen geschlummert hatte, tauchte allmählich auf und fegte alle anderen Identitäten fort, die ihm im Weg waren. Wir haben stolz behauptet, dass wir Europäer sind, dass in unserem Land – seht nur! – sogar das Zentrum Europas liegt, dass wir eines der ältesten Völker Europas sind, das eine Zeit lang durch historische Kataklysmen vom Stamm abgetrennt worden, aber immer noch in der Lage war, wieder anzuwachsen.

Und trotzdem spüre ich heute, dass mir die europäische Identität zu gross ist, wie ein Kleidungsstück, das mir gefällt, aber zu weit ist. Litauen hat mehrere Jahrhunderte lang das westliche Randgebiet des Russischen Reiches gebildet und war in der Zarenzeit auch so bezeichnet worden: severo-sapadnyj kraj – Nordwestgebiet. Nun, da es wieder zu Europa gehört, ist es erneut Randgebiet, doch die geografische Bezeichnung hat sich geändert – jetzt lautet sie »Osteuropa«. Jawohl, ich bin wahrscheinlich Osteuropäer: Die Unbestimmtheit dieser Region, ihre eigenartige Unselbständigkeit, ihre geopolitische und existenzielle Unwirklichkeit sind mir nahe, sie entsprechen meiner Befindlichkeit als Schriftsteller.

Ich fühle mich hingezogen zur osteuropäischen Literatur, weil ich in ihr die kaum benennbaren, aber zweifellos existierenden Codes einer gemeinsamen Sprache wiedererkenne. Jawohl, diese Codes werden generiert von unserer gemeinsamen repressierten Vergangenheit, von unserer Melancholie oder Ironie der ewigen loser, Verlierer und Versager, von unserem ständigen Balancieren zwischen Zerstörung und Erschaffung. Da ich nicht politisch korrekt bin (und mir das eine weitere Eigenschaft zu sein scheint, die sich Osteuropäer bewahrt haben), wage ich zu behaupten, dass dies eine günstigere Umgebung für Kreativität ist. Nicht die meliorierte Weide, sondern der Sumpf ist Quelle von Vielfalt und Fülle des Lebens.

Heute werden aus Sümpfen oft Reservate. Osteuropa ist glücklicherweise kein Reservat, und doch sind bei uns noch immer Gärungsprozesse im Gange. Ob die seltenen Mücken- und Krötenarten, die hier entstehen, für irgendwen von Interesse sind, das ist eine andere Frage. Ich jedenfalls bin genetisch mit Jaroslaw Hašek, Bohumil Hrabal, Bruno Schulz, Zbigniew Herbert, Czeslaw Milosz, Juri Andruchowytsch und Marcin Swietlicki verwandt. Und noch mit vielen anderen. Und sie sind alle sehr verschieden, trotzdem.

 

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig


[1] Eugenijus Ališanka wuchs auf in der Vilniuser Feliks-Dzierzynski-Strasse.

[2] E.A. war Fan von »Žaibai«, einer Vilniuser Fussballmannschaft.


Zuletzt erschienen:

Eugenijus Ališanka gehört zu den wichtigsten jüngeren Lyrikern der Gegenwart. In seinem neuen Lyrikband Exemplum durchmißt ein ruhelos Reisender, a poet on the road, die Räume des neuen Europas, auf den Spuren seiner politischen und kulturellen Topographie. Leere Wachtürme stehen in versehrten Landschaften; die Städte und Provinzen zwischen Vilnius und Venedig bergen ungezählte Erinnerungen, eigene und fremde, eingefärbt von uralter Erfahrung. Wie Zbigniew Herbert, den Ališanka ins Litauische übersetzt hat und dem er als Autor viel verdankt, hält sein lyrisches, Rollen spielendes Subjekt Zwiesprache mit Dichtern und Philosophen: Epikur und Empedokles, Dante und Proust, Milosz und Barthes.
Seine reimlose, prosodische Lyrik kommt erzählerisch, oftmals auch recht ironisch daher: wenn etwa Odysseus ins heutige »nichtraucher-europa« heimkehrt. Mit traumwandlerisch leichter Hand geschrieben, wirken sie wie die Seiten eines imaginären Reisetagebuchs.

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Eugenijus Ališanka, 1960 in Barnaul/Sibirien geboren, lebt in Vilnius. Er studierte Mathematik, publizierte sechs Lyrikbände, Essays und Übersetzungen. Seit 2003 gibt er die Vilnius Review heraus, die zeitgenössische litauische Literatur auf englisch präsentiert.

Eugenijus Ališanka, 1960 in Barnaul/Sibirien geboren, lebt in Vilnius. Er studierte Mathematik, publizierte sechs Lyrikbände, Essays und...