György Dragomán über osteuropäische Literatur

György Dragomán schreibt über Unabhängigkeit, Freiheit, Isolation und innere Gefängnisse. An eine osteuropäische Literatur glaubt er nicht, vielmehr an eine gemeinsame osteuropäische Erfahrung.


»Gibt es eine osteuropäische Literatur?«

Als Schriftsteller hat mich die Erfahrung der Macht geprägt und ihre zwangläufige Folge: das innere und äußere Exil. Eine osteuropäische Eigenheit, könnte man meinen, und wenn ich an Bulgakow oder Hašek oder Hrabal denke, mag es auch zutreffen; wenn ich an die Romane von Kafka, Beckett und Faulkner denke, kommt es mir so vor, als hätten sie dasselbe empfunden und erlebt wie ich, obwohl sie in einer vollkommen anderen Zeit und einem vollkommen anderen Raum existiert haben. So gesehen gäbe es also keine spezifische osteuropäische Literatur; oder wenn es sie gibt, so entsteht sie nicht nur in Osteuropa, sondern überall dort, wo die politische Gewalt den Schriftsteller aufs Absurdeste isoliert und ausliefert.

Nein, es gibt keine osteuropäische Literatur, es gibt nur Schriftsteller, einfach nur Schriftsteller und Geschichten. Wenn ich schreibe, muss ich frei sein, ich gehöre niemandem an und gehöre nirgendwohin, mein einziges Ziel ist es, so präzise wie möglich niederzuschreiben, was ich schreiben muss. Wenn ich schreibe, bin ich niemand und diene keinem Herrn, ich diene ausschließlich dem Schreiben. Wenn ich von mir sagen würde, dass ich ein osteuropäischer Schriftsteller bin, wenn ich das so klar von mir wüsste, so würde ich bereits ein Stück Freiheit aufgeben, die ich zum Schreiben brauche. Das darf ich aber nicht, selbst wenn beinahe alles, was ich bisher geschrieben habe, mit der Natur der Diktatur zu tun hat.

Ich weiß auch nicht, ob es Osteuropa überhaupt gibt. Ich erinnere mich noch, in Siebenbürgen, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wollten wir den Begriff Osteuropa nicht einmal als geographische Bezeichnung verwenden, wir hatten das Gefühl, vom Westen als zum Osten gehörig angesehen zu werden − zu Unrecht, da wir doch in Wirklichkeit Mitteleuropäer waren. Ich glaube, für uns war der Begriff »mitteleuropäisch« gleichbedeutend mit dem unerreichbaren Traum von Unabhängigkeit und Freiheit, mit einer Wehmut, mit der man den versäumten historischen Chancen nachsann, er enthielt für uns die Sehnsucht nach der Vergangenheit, als Siebenbürgen eine mehr oder weniger über Jahrhunderte dauernde Unabhängigkeit besaß. Wir dachten, Siebenbürgen sei Europas letzte Bastion, der Osten beginne jenseits der Karpaten. Wir kannten unsere Nachbarn, hatten aber kein Vertrauen zu ihnen, und wenn wir sie mit der Zeit dennoch zu mögen begannen, hat uns die Ähnlichkeit, die wir aneinander wahrnahmen, eher erschreckt als beruhigt. Wir waren zwar Teile eines einzigen Reiches, aber das große Gefängnis teilte sich in viele kleine, auch von innen verschließbare Zellen, in denen jeder danach trachtete, sich in seine eigene Tradition einzusperren, zwischen den Zellen gab es keinen Durchgang, und wenn sich doch einer auftat, begegneten wir uns meistens mit Misstrauen. Vielleicht ist dies die große gemeinsame osteuropäische Erfahrung, die wir seither zu verarbeiten suchen. Wir schreiben unsere Gefängnistagebücher, während wir hoffen, eines Tages etwas anderes schreiben zu können.


Werke von György Dragomán

Der Scheiterhaufen

24,95 €

Der weiße König

14,00 €

Löwenchor

24,00 €
24,95 €
14,00 €
24,00 €

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György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. Der weiße König (2005; dt. 2008) ist in dreißig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.

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