Joanna Bator über osteuropäische Literatur

Joanna Bator spricht über die »Schmuddelkinder Europas«, über Zugehörigkeit, Osteuropa als Antipode, als schmerzliche Erfahrung von Mangel und sie berichtet über Bücher, die die Welt verändern.


Osteuropa ist ein Phantasiegebilde, ein unklar definiertes Gebiet mit vagen Grenzen.
Seit Jahren erlebe ich, wie man mich mal als dazugehörig betrachtet und dann wieder nicht.
Als ich mich in den neunziger Jahren als Doktorandin um Forschungsstipendien bemühte, gehörte ich ebenso wie andere junge Akademiker aus Ungarn, Ukraine, Russland, Weißrussland, Tschechien oder der Slowakei zu Osteuropa. Für uns gab es besondere Stipendien, Stiftungen, die sich hilfreich erboten, uns, die des Englischen oft nicht ganz mächtigen Schmuddelkinder Europas, in die internationale akademische Welt zu integrieren.
Mit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts jedoch stellte sich heraus, dass Polen und Ungarn von dieser Landkarte Europas, an der sich die einst großzügen Stiftungen orientierten, verschwunden waren.
Als wären wir jetzt schon groß, so dass man uns ins weite Meer Europas, ja vielleicht gar der ganzen Welt, entlassen konnte.

Die Erfahrung der Zugehörigkeit zu dieser rückständigen und unterentwickelten Provinz, die als Antipode des eigentlichen Europas definiert wurde, war für mich in meiner Jugend prägend, und es wäre unklug, etwas anderes zu behaupten.
Ich weiß immer noch nicht, was in diesem Kontext eigentlich Osteuropa ausmacht, denn die schmerzliche Erfahrung von Mangel – an Freiheit, an Zugang zu Wissen und Bildung, an materiellen Gütern – verbindet mich nicht nur mit den Bürgern anderer Ländern des ehemaligen Ostblocks, sondern beispielsweise auch mit den Einwohnern des Kongo und den Bewohnern der Ghettos Nordamerikas und Europas.
Die Kommunismuserfahrung in den ehemaligen Ostblockländern war kulturell sehr differenziert und fand im katholischen Polen eine ganz besondere Ausprägung. Auf dieser Grundlage wäre es auch schwierig, verbindende literarische Bezüge herzustellen, denn was hat zum Beispiel Tokarczuk mit Solschenizyn gemein?

Ich glaube, es gibt zwei Arten guter Bücher, unabhängig von der Herkunft ihrer Autor/Innen.
Zur ersten Art gehören die Bücher, die Linderung verschaffen, weil sie Bekanntes schön beschreiben.
Die Leser können darin bessere und hübschere Worte für ihre Freuden und Leiden finden. Sie tun nicht weh. Sie brennen nicht auf den Nägeln. Das sind oft Bestseller. Die zweite Art, das sind die Bücher, die die Welt verändern. Sie stecken wie ein Splitter im Kopf, ihre Worte hallen in uns wider, denn sie haben etwas in Bewegung gesetzt, etwas umgewälzt und verschoben. Das sind die Bücher, wie sie zum Beispiel Elfriede Jelinek, Herta Müller, John Maxwell Coetzee schreiben. Nur diese zweite Art Bücher sind politisch, und nur sie interessieren mich. Politische Literatur in diesem Sinne ist die einzige Kategorie und »Schublade«, die mich etwas angeht.
Ich bin eine polnische Schriftstellerin insofern, als sich nur dort und nur in der polnischen Sprache meine persönliche Mikrohistorie so mit anderen Mikrohistorien verzahnt und verschränkt, dass ich es als vertraut empfinde. In meinem letzten Roman, der den Titel »Chmurdalia« trägt und qaud deutsch »Wolkenfern« heißen wird, sind die Heldinnen eine Polin, die in der Welt umherzieht, eine Afromaerikanerin und eine Frau von nirgendwoher, die mit einem Deutschen verheiratet ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass an dieser Geschichte etwas spezifisch »Osteuropäisches« ist.
In meiner derzeitigen Wohnung in Tokio betrachte ich gerade die Wettervorhersage bei BBC. Zwischen Berlin und Moskau ist mal wieder nichts. Ein weißer Fleck. Ich hoffe, dieser weißer Fleck bietet Platz für gute Literatur.

(aus dem Polnischen von Esther Kinsky)


Romane von Joanna Bator

Sandberg

14,00 €

Wolkenfern

14,00 €

Dunkel, fast Nacht

14,00 €

Bitternis

34,00 €
14,00 €
14,00 €
14,00 €
34,00 €

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Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.

Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche...