Oleg Jurjew über osteuropäische Literatur

Oleg Jurjew unterscheidet die frühe osteuropäische Moderne, die vor allem von jüdischen Autoren wie Kafka, Bruno Schulz und M. Blecher geschaffen wurde, von der Literatur, die nach dem Zweiten Weltkrieg im »politischen Osten« Europas entstand und stellt die Gegenfrage − in polemischer Absicht.


»Gibt es eine osteuropäische Literatur?«

Wie fast immer hängt die Antwort auf eine solche Frage vom Blinkwinkel, genauer gesagt, von der Blickrichtung ab: Vom Westen aus gesehen gibt es sie zweifelsohne, die osteuropäische Literatur samt den dazugehörigen Osteuropäern. Aber natürlich nur dann, wenn man die lächerlichen gegenseitigen Ressentiments der Osteuropäer nicht zu ernst nimmt, die sich untereinander immer »Osteuropäer« und »Asiaten« schimpfen, die man lieber nicht ins europäische Paradies einlassen sollte. Leider gibt es auch im Westen Tausende und Abertausende, auch in prominenten Positionen, die gewillt sind, »lächerliche Ressentiments« und nationale und nationalistische Mythen zu »verstehen« und sogar als geschichtliche und politisch-aktuelle Tatsachen weiter zu transportieren oder sogar durch sie außenpolitische Entscheidungen zu »begründen«, weil in der gegenwärtigen Politik, auch Kulturpolitik, einige der Osteuropäer als bessere, also westlichere Europäer gelten und als weltpolitische Klientel: Deren Ressentiments werden übernommen und zu Realitäten erklärt. Aber wir klammern diese Tendenz lieber aus, sonst führt es uns sehr weit weg von unserem Thema.

Wenn unsere Frage also in den Strahl des vom Osten nach Westen gerichteten verliebten und neidischen Blicks gerät, erscheint die Existenz einer »osteuropäischen Literatur« als lächerliche Pauschalisierung. Es gibt kein Osteuropa in Osteuropa: In den Ländern zwischen Deutschland und Russland werden längst Derivatbezeichnungen erfunden – Mitteleuropa zum Beispiel, oder in der letzten Zeit »neues Europa«, um das Schimpfwort »Osten« nicht mehr auf sich sitzen zu lassen – eine Folge des geschichtlichen Sieges des Westens in dem Kampf, der seit dem Zerfall des Römischen Reiches ununterbrochen lief. Bis zum 18. Jahrhundert war dieser Kampf entschieden: Nicht nur für die Westler selbst, sondern auch in den Augen der Ostler war „das Westliche“ nunmehr automatisch besser – qualitativer, reicher, ehrlicher, gesünder, progressiver − egal was: einfach besser! – als »das Östliche«. Letzteres betrifft auch das Selbstverständnis der Russen – nicht aller Russen, sondern der gebildeten Schicht, der »Intelligentsia«, die allerdings infolge der bildungspolitischen und kulturellen Entwicklung der Sowjetzeit heute die Mehrheit der Bevölkerung darstellt. Dabei ist Russland auch dem eigenen Verständnis nach kein „Osteuropa“: Russland ist Russland, das ist ein eigener Kontinent.

Die Beweglichkeit solcher Definitionen kennen die Deutschen übrigens nur zu gut aus ihrer eigenen Geschichte: Es gab Zeiten, als der »Westen« noch an der französischen Grenze begann und ein Mitteleuropa angestrebt wurde, das eigentlich mit dem Deutschen Reich übereinstimmte; dann wurde Westdeutschland zu Westen und Ostdeutschland zu Osten. Vielleicht wäre eine Parallelfrage angebracht: Ob eine westeuropäische Literatur existiert und wenn ja, ob die deutsche Literatur dazu gehört? Und, eine kleine Abzweigung derselben Frage: Ob die DDR-Literatur zu der ost- oder westeuropäischen Literatur gehörte, während die DDR existierte? Und danach?

Die Frage nach der Existenz einer westeuropäischen Literatur wird, soviel ich weiß, kaum je gestellt: Wahrscheinlich, weil sie beinahe absurd und auch unnütz anmutet. Selbstverständlich gibt es keine westeuropäische Literatur, die Ähnlichkeiten etwa zwischen der norwegischen und der spanischen Literatur, oder meinetwegen zwischen der deutschen und der französischen, um die klimatischen Unterschiede nicht so sehr zu bemühen, ist kaum ausgeprägt. Und genauso selbstverständlich und auch unumstritten ist die Existenz der gesamtwesteuropäischen Literatur im Osten. Wir sehen, die Situation ist dieselbe, nur umgekehrt.

Ich bin ein russischer Autor, also, wie erwähnt, keinesfalls ein »Osteuropäer« – ich bin noch schlimmer! Ich gehöre einer der größten, einer der wunderbarsten Literaturen der Welt an, die allerdings immer schon für alle Einflüsse (vom Westen: im 17. Jahrhundert aus Polen, im 18. aus den Niederlanden, aus den deutschen Landen, später selbstverständlich aus Frankreich, im 20. Jahrhundert aus dem »Gesamtwesten«, von den osteuropäischen, in erster Linie polnischen Zwischenquellen aufbereitet, d. h. von polnischen und anderen »volksdemokratischen« Zeitschriften vermittelt, die seit den 60er Jahren in der Sowjetunion frei zugänglich waren) sehr offen war – zum eigenen Vor- wie auch Nachteil. Ich bin der russischen Moderne (Belyi, Platonov, Dobycin u.a) verpflichtet, die aber kaum Parallelen zur osteuropäischen Moderne aufweist, die ich als Leser innig liebe. Die dritte Literatur der Moderne, die westeuropäische, die Moderne eines Proust, eines Joyce (aber nicht eines Kafka! Kafka ist ein typischer Osteuropäer!) usw., hat einen großen Einfluss auf die russische Literatur, also auch auf mich ausgeübt. Es gibt jedoch selbstverständlich auch osteuropäische Bücher, die so meisterlich übersetzt wurden, dass sie praktisch in die russische Literatur eingegangen sind, ein gutes Beispiel dafür ist »Der brave Soldat Švejk« von Jaroslav Hašek: Ich kenne dieses Buch fast auswendig, in der russischen Zivilisation nimmt es einen Nachbarplatz zu den beiden Kultromanen von Ilf und Petrov ein.

Von meinem noch weiter östlicher gelegenen Osten aus nach Westen blickend, erkenne ich gewisse systematische Ähnlichkeiten in einem Kulturfeld, das sich von Polen bis Rumänien erstreckt. Und auch als jemand, der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, sehe ich wieder Ähnlichkeiten. Möglicherweise nicht ganz dieselben, aber für meinen persönlichen Blick vom Westen ostwärts existiert Osteuropa – im Moment noch.

Bei allen unseren Diskussionen vergessen wir für gewöhnlich die geschichtliche, die dynamische Komponente des Themas. Osteuropäische Literatur ist nicht gleich osteuropäischer Literatur. Eine Sache ist die wunderbare »osteuropäische Moderne«, die Literatur, die zwischen den 1890ern und 1930ern vor allem auf dem Staatsgebiet Österreich-Ungarns oder an dessen Grenzen entstanden ist: Die Ähnlichkeiten, sogar enge Zusammenhänge, sind nicht zu übersehen, sie entwachsen den ähnlichen kulturellen, sprachlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Prozessen, die hier stattfanden. In diesem Sinne gibt es (gab es!) eine »osteuropäische Literatur«, eine wirklich große Literatur, die Literatur von Kafka und Hasek, M. Blecher und Bruno Schulz, Zygmunt Haupt und Karol Papp und vielen, sehr vielen anderen wunderbaren, unglücklichen und verrückten Dichtern. Diese Literatur ist jedoch ein literatur- und kulturgeschichtliches Faktum, eine sozusagen runde, geschlossene Sache.

Die zweite osteuropäische Literatur entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ländern des »politischen Ostens«, und in beiden Richtungen, von West nach Ost und von Ost nach West, rücken sehr viele Gemeinsamkeiten in den Blick. Sogar mehr, als die erste osteuropäische Literatur geteilt hatte, weil die Autoren in diesen Ländern mehr oder weniger gleichen politischen und ästhetischen Verboten unterlagen, und (im Vergleich zu den Literaturen der Sowjetunion) auch über mehr oder weniger ähnliche Freiheiten verfügten. Auch das Leben in diesen Ländern, einer Kreuzung aus den Zwängen des real existierenden Sozialismus und den Selbstverständlichkeiten der früheren Zeiten, war strukturell überall ähnlich und sehr eng dimensioniert.

In dem Maße, in dem sich die Literatur aus »Mitteleuropa« noch von diesen Erfahrungen, von der »sozialistischen Zivilisation« nährt (und auch in dem Maße, wie die Menschen in »Mitteleuropa« noch die Zeit vor der Wende in Erinnerung haben und durch sie bestimmt sind), bleiben die Literaturen der Ungarn und Rumänen, der Polen und Tschechen »osteuropäisch«, zeigen also gemeinsame Merkmale.

Ob sie am Abklingen ist, diese »osteuropäische Literatur«, ob sie im Laufe der Zeit tatsächlich verschwindet, ob die Literaturen in dieser Region künftig mehr von den klimatischen, wirtschaftlichen und sprachlichen Unterschieden bestimmt sein werden und weniger von ihrer jüngsten gemeinsamen Geschichte, ist eine Frage, die nur die Zeit selbst beantworten kann. Ich würde das nicht wagen.


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Oleg Jurjew wurde 1959 in Leningrad als Sohn einer Hochschullehrerin für englische Sprache und eines Violinisten und Konservatoriumsdozenten geboren. An der Leningrader Hochschule für Volkswirtschaft und Finanzen absolvierte er ein Studium in der Fachrichtung »Wirtschaftliche Mathematik und Theorie der Systeme«.

Sein schriftstellerisches Arbeiten begann 1970. 1989 erschien der erste Lyrikband Gedichte über den himmlischen Satz, 1990 ein Buch mit zwei Theaterstücken unter dem Titel Zwei kurze Stücke (Leningrad 1990). 1991 übersiedelte Oleg Jurjew mit seiner Familie nach Deutschland. Ein Jahr später wurden drei Theaterstücke, Kleiner Pogrom im Bahnhofsbuffet, Miriam und Sulamith oder Die Kinder Jerusalems ins Deutsche übersetzt und...

Oleg Jurjew wurde 1959 in Leningrad als Sohn einer Hochschullehrerin für englische Sprache und eines Violinisten und Konservatoriumsdozenten...