Jürgen Becker: »Da wagt einer, mich zu zerreißen?«

Jürgen Becker über die Kritik an seinen Büchern, den Einfluss von Biografien berühmter amerikanischer Autoren, unordentliche Schreibtische und die Gewohnheit, nichts wegwerfen zu können.

Lesen Sie die Transkription des Gesprächs

Jürgen Becker wurde am 10. Juli 1932 in Köln geboren und verbrachte seine Kindheit in Köln und Erfurt. Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt er schriftstellerisch tätig zu werden. Später arbeitet er beim Westdeutschen Rundfunk, als Verlagslektor in Hamburg, als Leiter des Suhrkamp Theater Verlags und der Hörspiel-Redaktion des Deutschlandfunks. Sein erster Prosaband »Felder« erscheint 1964 im Suhrkamp Verlag. 2014 erhält Jürgen Becker den Georg-Büchner-Preis. Jürgen Becker ist mit der Künstlerin Rango Bohne verheiratet und lebt mit ihr in Köln und in Odenthal.

Einen wunderschönen Tag, Herr Becker.
Schönen guten Tag.

Seit wann spielt Literatur in Ihrem Leben eine Rolle?
Angefangen zu schreiben habe während der Schulzeit, als Primaner, mit 18 Jahren. Da wusste ich bereits, es gibt etwas, womit ich Gefühle ausdrücken kann – in Sprache. In jedem Fall wollte ich in diesem Bereich arbeiten. Theater, Kunst, Literatur. In diese Richtung fing ich an zu studieren, hörte aber bald auf, weil plötzlich doch ein paar Gedichte veröffentlicht wurden. Da habe ich sehr früh, mit Anfang 20, gesagt, ich tue nichts anderes, ich sitze nur noch zu Hause und schreibe. Das war natürlich eine Illusion. Ich habe dann jahrelang alles Mögliche machen müssen, um Geld zu verdienen. Alle möglichen Tätigkeiten, die mit Literatur nichts zu tun hatten. Aber ich war jung und ich hatte von den Amerikanern gelernt, in deren Biografien konnte ich ja lesen, dass sie alle Tellerwäscher oder Postbote oder Nachtwächter waren. Das gehörte mit zum literarischen Einfluss: die Biografien von amerikanischen Autoren. Das war für mich interessant. Man muss nicht unbedingt ein Studium mit einer Promotion hinter sich haben, sondern man muss sich im Leben bewährt haben. Das hat mir ganz gut getan.

Sie schreiben schon sehr, sehr lange. Aber wie schreiben Sie? Haben Sie im Laufe der Jahrzehnte eine Technik entwickelt, die sich immer wiederholt? Oder versuchen Sie immer wieder neue Ansätze zu finden?
Zunächst brauche ich ein Heft mit leeren Seiten, kariert, und eine bestimmte Art von Bleistift – ein Architekten-Stift, so nannte man das früher, mit einer einschiebbaren Mine. Die leere Seite und der Stift in der Hand ... Dann muss ich wissen, es schreibt etwas in mir. Die Technik des Schreibens besteht für mich darin, herauszufinden, was in mir schreibt. Den Text, der sich irgendwie im Dunkeln schon vorbereitet hat, nun zu entdecken und zu Papier zu bringen.

Brauchen Sie auch gewisse Räumlichkeiten, wo Sie schreiben?
Ja, ich brauche Gewohnheiten, die mit Räumen zu tun haben. Ich habe zwei, drei Schreibtische in zwei verschiedenen Häusern. Die sind alle sehr unordentlich. Da liegt alles herum, was sich so angesammelt hat. Ich darf nicht versuchen, da Ordnung reinzubringen, denn wenn Ordnung herrscht, finde ich nichts mehr. Das sind wie die Schichten des Gedächtnisses, die sich da vor mir spiegeln und abbilden. Es ist ja nicht nur Arbeitsmaterial, dass der Tisch voller Poesie liegen würde ... Nein, nein. Das sind unbezahlte Rechnungen und unbeantwortete Briefe und irgendwelche Fotos, die mir meine Frau hinschiebt, die sie gemacht hat. Es ist der Alltag, der sich auf dem Tisch widerspiegelt.

Können Sie Sachen wegschmeißen?
Schwer, sehr schwer. Meine Erfahrung als Kriegs- und Nachkriegskind lehrte mich, dass überall Mangel herrschte. Mit diesem Bewusstsein bin ich aufgewachsen, es war nie genug da und man musste alles aufheben, weil man vielleicht ja alles nochmal gebrauchen könnte. Mit diesem Gefühl bin ich dann auch erwachsen geworden. Das ist heute immer noch so, dass ich kein Holzstück wegwerfen kann. Wir haben in unserem Bauernhaus noch Ofenheizung. Ich sammle also altes Holz und jeder Ast, der vom Baum fällt, wird zersägt und gehackt. Das sind Gewohnheiten und wehe man nimmt sie mir.

Was passiert dann?
Dann fehlt etwas. Dann werde ich nervös und unruhig und schlecht gelaunt.

Grantig?
Ja, das muss alles so sein.

Wer muss dann leiden?
Ich selber leide am meisten darunter.

Sie haben, ich glaube im Jahr 1982, zum allerersten Mal ihr Alter Ego Jörn Winter eingeführt. Was ermöglicht Ihnen diese Figur?
Wenn ich schon biografisch oder autobiografisch vorgehe, habe ich damit eine Person, an die ich diese Autobiografie delegieren kann. Es ist nicht mein Leben, über das ich schreibe, sondern es ist das Leben von Jürgen Winter. Sein Leben gleicht zwar dem meinigen und er folgt der Spur des Verfassers. Diese Figur ist dann aber doch so offen angelegt, dass ich sie mit allen Möglichkeiten versehen kann, dass ich da Dinge hineinmischen kann, die mehr imaginär sind, die sogar erfunden sind. Und er ist mein Korrespondent. Er erzählt mir, was so passiert und was geschieht. Das ist natürlich wie ein Umweg. Ich habe es erlebt. Ich schreibe aber nicht, dass ich es erlebt habe, sondern ich lasse es jemand anderes, Jörn Winter, erleben, und er erzählt es mir. Und das schreibe ich dann auf.

Die Kritik und das Feuilleton liebt Sie ja. Haben Sie jemals wirklich heftige Kritik einstecken müssen? Negativ?
Ja, natürlich. Es hat schon einige Verrisse gegeben. Das hat mich dann auch sehr beschäftigt. Na gut, ich gebe zu, die positiven Kritiken waren in der Mehrzahl. Umso ernster habe ich dann die Verrisse genommen. »Wie, da wagt einer, mich zu verreißen?« Das muss ich aber nun genauer wissen. Vielleicht hat er ja sogar recht. Die Unsicherheit wächst natürlich. Es kann ja sein, dass sich alle, die wohlwollend sind, geirrt haben und derjenige, der den Verriss schreibt, hatte recht. Ich weiß es nicht. Man muss in jedem Fall versuchen, davon unabhängig zu bleiben, egal wie eine Kritik ausfällt. Ich lese sie, ich nehme sie zur Kenntnis, aber ich muss sie auch sofort wieder vergessen. Sie darf keinen Einfluss auf die Arbeit haben, ob sie nun sehr freundlich oder ob sie unfreundlich ist. Diese Kritik muss außen vor bleiben. Sie muss wieder verschwinden. Wenn Jungautoren mich fragen, sage ich ihnen immer wieder: Lest Eure Kritik, aber vergesst sie sofort.

Sagen Sie jemals »Feierabend«?
Ja. Nein. Ein Buch ist zu Ende. Und während des Schreibens, auch wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht, ist die Vorstellung da, dass das Buch mal irgendwann zu Ende ist. In einem halben Jahr oder in einem Jahr. Und dann ist es auf einmal zu Ende. Dann denke ich, »das ist es also«. Es ist tatsächlich zu Ende. Dann tippe ich es ab. Ich bin ja ganz altmodisch. Das mit der Hand geschriebene wird abgetippt, an den Verlag geschickt und er macht es. Dann kommt das Buch in einem halben Jahr. Dann weiß ich zunächst einmal gar nichts. Es ist nicht so, dass ich sofort ein nächstes Projekt hätte. Da ist dann eine große Leere erst mal da. Dann muss ich eben, wie ich zu Anfang sagte, warten. Darauf warten, ob etwas in mir ist, wo ich das Gefühl habe, da schreibt etwas. Da ist eine Stimme. Da muss ich hineinhören. Und wenn ich merke: »Ah ja, da ist wieder eine Stimme«, dann muss ich da nachhören, dann schreibe ich weiter, dann fange ich etwas an. Oft weiß ich nicht, was es werden wird.

Herr Becker, vielen Dank für das Gespräch.
Danke Ihnen.

Veröffentlichungen von Jürgen Becker

Die Rückkehr der Gewohnheiten

20,00 €

Gesammelte Gedichte

78,00 €

Gelegenheiten

18,00 €

Graugänse über Toronto

20,00 €

Felder

14,00 €

Jetzt die Gegend damals

19,95 €

Aus der Geschichte der Trennungen

10,00 €

Wie es weiterging

21,95 €

Aus der Kölner Bucht

12,00 €

Schnee in den Ardennen

8,00 €

Im Radio das Meer

19,80 €

Die folgenden Seiten

17,80 €

Der fehlende Rest

12,00 €

Korrespondenzen mit Landschaft

76,00 €

Die Gedichte

26,00 €

Ränder

15,00 €
20,00 €
78,00 €
18,00 €
20,00 €
14,00 €

Jürgen Becker, geboren 1932 in Köln, lebt, nach zahlreichen Ortswechseln, in Köln und in Odenthal im Bergischen Land. Für sein Werk hat er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. 2014 wurde ihm der Georg-Büchner-Preis zuerkannt. Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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