Das Vorhaben des logischen Empirismus, wissenschaftliche Theorien mit Hilfe von logisch-mathematischen Grundbegriffen und Schlußregeln auf die Erfahrung elementarer Sinnesdaten zurückzuführen, ist auf Schwierigkeiten gestoßen. Auf der Suche nach möglichen Alternativen ist in den letzten Jahren neben den behavioristisch beeinflußten Erkenntnistheorien auch der genetische Ansatz zunehmend in den Blick gerückt. Genetischen Fragestellungen liegt die Überzeugung zugrunde, daß sich mit der...
Das Vorhaben des logischen Empirismus, wissenschaftliche Theorien mit Hilfe von logisch-mathematischen Grundbegriffen und Schlußregeln auf die Erfahrung elementarer Sinnesdaten zurückzuführen, ist auf Schwierigkeiten gestoßen. Auf der Suche nach möglichen Alternativen ist in den letzten Jahren neben den behavioristisch beeinflußten Erkenntnistheorien auch der genetische Ansatz zunehmend in den Blick gerückt. Genetischen Fragestellungen liegt die Überzeugung zugrunde, daß sich mit der Entwicklung der kognitiven Strukturen jeweils auch das vom epistemischen Rahmenwerk abhängige Weltbild verändert und differenziert. Kognitive Systeme bauen sich demnach nicht aus atomaren Elementen auf, sondern sind das Ergebnis genetischer Umstrukturierungen einfacherer Systeme. In der deutschsprachigen Philosophie hat der genetische Ansatz aber bisher noch nicht wirklich Fuß gefaßt.
Mit seiner Arbeit verfolgt Th. Kesselring in diesem Zusammenhang zwei Ziele: erstens eine philosophische Aufarbeitung der genetischen Psychologie Jean Piagets und der Parallelen, die zwischen dieser und einer der mächtigsten Traditionen der deutschen Philosophie bestehen: derjenigen des Idealismus im allgemeinen und Hegels im besonderen. Im Dienste dieses ersten Ziels leistet Kesselring zweitens einen Beitrag zu einer ›rationalen Rekonstruktion‹ Hegelscher Dialektik. Dabei setzt er einerseits Hegel-immanent an – freilich ohne die Hegelsche Terminologie unbefragt stehenzulassen –, und andererseits legt er ein Modell vor, worin das Prinzip der Hegelschen Dialektik auf die von Piaget und seinen Mitarbeitern erforschte kognitive Entwicklung übertragen wird. Dieses Programm dient nicht zuletzt dem Versuch, die Grundlagen der Hegelschen Philosophie in eine Hegel-externe Begrifflichkeit zu übersetzen – ein Unternehmen, das nebenbei auch Erwägungen zur Bedeutungstheorie und zu Fragen aus dem Bereich der Philosophie der Logik erforderlich macht.
Mit seinem neuen Buch führt Th. Kesselring das in einer früheren Untersuchung (Entwicklung und Widerspruch, 1981) begonnene Projekt einer gegenseitigen Erhellung von genetischer Erkenntnistheorie und dialektischer Philosophie fort. Während in der früheren Arbeit die Entwicklungspsychologie Jean Piagets im Vordergrund steht, wird nun der Hauptakzent auf eine Untersuchung der Hegelschen Dialektik gelegt.