Marie NDiaye erhält den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2023

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27.03.2023
Beitrag zu Marie NDiaye erhält den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2023
Der vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport vergebene Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur geht dieses Jahr an die französische Autorin Marie NDiaye.

»Marie NDiayes Bücher sind komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen. Wer denkt, es sei alles in bester Ordnung in unserer liberalen Wohlstandsgesellschaft, der irrt. Man muss nur einen Roman von Marie NDiaye aufschlagen und weiß, dass vieles im Argen liegt. Gerade in Zeiten massiver gesellschaftlicher Umbrüche wirkt sie daher für den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur wie prädestiniert«, so Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer. »Marie NDiaye schafft Figuren, in denen gesellschaftlich Verdrängtes und Unerledigtes wiederkehrt, und entwickelt Szenen und Familienaufstellungen, die sich rational nicht restlos erklären lassen. Nicht mit Psychologie, nicht mit Psychoanalyse, nicht mit Soziologie. Die Befremdung, das Unheimliche wird nicht aufgelöst. Der Leser bleibt irritiert zurück, blättert nochmals vor zum Anfang, liest einzelne Absätze noch einmal nach – um zu erkennen, dass Marie NDiaye die unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung ist.«

Staatssekretärin Andrea Mayer hob in diesem Zusammenhang auch die besondere Bedeutung der Übersetzer:innen hervor, ohne die es keine europäische Literatur, ohne die es keine Weltliteratur geben würde: »Denn dass wir Marie NDiaye auf Deutsch lesen können, verdanken wir ihrer Übersetzerin Claudia Kalscheuer.«

Die Jurybegründung: Marie NDiaye kann zurecht als Star der französischen Gegenwartsliteratur bezeichnet werden. Ihre Wirkung reicht jedoch weit darüber hinaus. Sie hat Europa wörtlich genommen erfahren, lebte mit ihrer Familie auch viele Jahre in Spanien, Italien, den Niederlanden und Deutschland. Es dürften prägende Aufenthalte gewesen sein, wie man ihren Texten entnehmen kann. Bereits als Teenager veröffentlichte sie 1985 ihren ersten Roman. Seither hat sie eine Fülle an Werken geschaffen, vor allem Prosa, aber auch Dramen, Drehbücher und Essays, die immer wieder bestätigen: Sie gehört längst schon zu den Besten unserer Zeit. Diese Autorin ist stilistisch brillant, eine Meisterin der Figurenzeichnung. Sie schlägt ihr Publikum mit raffinierten Erzählweisen in Bann, lässt immer wieder Abgründe erahnen. Manche ihrer Texte lesen sich wie Horror-Thriller. Entfremdung, familiäre Beklemmungen und entsprechende Ausbruchversuche sind wiederkehrende Motive bei ihr. Aus diversen Blickwinkeln sieht man den Kontinent und beginnt tiefgehende Verschiebungen zu ahnen. In den wunderbaren Büchern dieser Tochter einer Französin und eines Senegalesen spielt Afrika ebenfalls eine kaum zu unterschätzende Rolle. Auch aus dieser Perspektive erschließt sich ihren Leserinnen und Lesern Europa und stellt es in einen größeren Zusammenhang.

Die fünfköpfige Jury für den Preis 2023 bestand aus Anna Kim, Anette Knoch, Norbert Mayer, Teresa Präauer und Robert Renk.

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen, das international besondere Beachtung gefunden hat, was durch Übersetzungen dokumentiert sein muss. Das Werk muss auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert. Die Preisverleihung erfolgt durch Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer traditionell im Rahmen eines Festaktes während der Salzburger Festspiele. Zuletzt ging der Preis an Mircea Cărtărescu, Andrzej Stasiuk, Karl Ove Knausgård, Zadie Smith, Michel Houellebecq, Drago Jančar, László Krasznahorkai und Ali Smith.

Laudatio zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur an Marie NDiaye am 28. Juli
von Anne-Catherine Simon


Sehr verehrte Anwesende und vor allem sehr verehrte Preisträgerin,

Es gibt im Französischen ein Wort, das vermisse ich im Deutschen immer wieder: das Wort »étrange«.
Man kann sich daran nur annähern im Übersetzen, einmal »seltsam« schreiben, einmal »merkwürdig«, einmal »bizarr«. Oder, mir am liebsten, »sonderbar«: Das klingt zumindest ähnlich weich und dunkel.
»Étrange« ist im Französischen nur einen Buchstaben von »étranger« entfernt, dem Wort für »fremd, der Fremde«. Das lateinische Wort für »von außen kommend«, »außen« steckt dahinter. Und dieser Zusammenhang des Sonderbaren mit dem Fremden, von außen Kommenden ist in diesem Wort sichtbar geblieben. Im Deutschen haben wir diese Verwandtschaft des Sonderbaren und des Fremden nur, wenn wir davon reden, dass etwas »verfremdet« wird oder »befremdlich« ist.
»Etrange« - dieses Wort drängt sich mir bei der Lektüre von Marie NDiayes Büchern auf wie kaum ein anderes. Seit ihrem ersten Roman, den sie als 17-jährige Gymnasiastin einem renommierten französischen Verlag schickte, der sofort das außergewöhnliche Talent erkannte - ein Verlag, der einen, finde ich, zum Charakter ihres Werks irgendwie passenden Namen trägt: »Editions de Minuit«, Mitternachts-Verlag.
Das Fremde als das Sonderbare nistet in ihren zwölf Romanen, in ihren Erzählungen und Theaterstücken. Es tränkt alles, durchdringt alles in ihrem Werk. Manchmal hat das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, das die Menschen darin charakterisiert, auch mit Geografie und Herkunft zu tun. Manche Figuren haben Eltern verschiedener nationaler Herkunft, verschiedener Hautfarbe, eine wichtige Figur in Marie NDiayes jüngstem Roman ist eine »Illegale« aus Mauritius. Noch mehr hat die Fremdheitserfahrung mit der Flucht aus dem sozialen Herkunftsmilieu zu tun, mit dem Zusammenprall unterschiedlicher Milieus. Doch auch wenn diese Gefühle der Nicht-Zugehörigkeit einfließen, werden sie in Marie NDiayes Texten in eine viel umfassendere Fremdheitserfahrung verwandelt. Diese Fremdheitserfahrung bemächtigt sich jeder Realität, jeder Faser ihres Werks, und sie erfasst fast buchstäblich von der ersten Zeile an die Lesenden. Alles und jeder wird hier fremd, jede vertraute »Normalität« im Schreiben unterminiert - und zwar so selbstverständlich, als gäbe es da gar nichts zu erklären.

Die vollständige Laudatio von Anne-Catherine Simon finden Sie hier.

Marie NDiaye im Suhrkamp Verlag

Die Chefin

12,00 €

Drei starke Frauen

10,00 €

Ein Tag zu lang

15,95 €

Rosie Carpe

9,95 €

Mein Herz in der Enge

17,90 €

Ladivine

22,95 €

Die Rache ist mein

22,00 €
12,00 €
10,00 €
15,95 €
9,95 €

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WDR 5, Literaturmagazin, Rezension von Dirk Fuhrig, gesendet am 20.06.2010


Marie NDiaye, 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren, veröffentlichte mit 17 Jahren ihren ersten Roman; weitere Romane und Theaterstücke folgten. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, u. a. den Prix Goncourt für Drei starke Frauen. NDiaye lebt in Paris.
Marie NDiaye, 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren, veröffentlichte mit 17 Jahren ihren ersten Roman; weitere Romane und...