Dževad Karahasan über osteuropäische Literatur

Dževad Karahasan hebt in seinem Beitrag die charakteristischen Merkmale der osteuropäischen bzw. südosteuropäischen Literatur hervor. Er spricht über das künstlerische Selbstverständnis, von Inspiration und Handwerk, über Sprache, das Anderssein und die Rolle des Exoten.


Unbestreitbar gibt es eine osteuropäische bzw. südosteuropäische Literatur, wobei es mir wichtig ist zu betonen, dass alle Charakteristika und Eigenschaften, die wir diesem Korpus von Texten zuschreiben, auch anderswo zu finden sind, nur nicht in diesen besonderen Konstellationen und Mischungen. Folgende charakteristische Merkmale möchte ich hervorheben:

1. Das künstlerische Selbstverständnis der Schriftsteller und Dichter ist anders: Im Osten Europas war die platonische Tradition stets präsenter und wirkungsmächtiger als im Westen. Die Inspirationslehre ist dank des jahrhundertelangen Einflusses von Byzanz in den osteuropäischen Kulturen tief verwurzelt und bis heute lebendig; ob in Skopje oder Petersburg, Bukarest oder Tirana – wenn du über Kunst sprichst, musst du auch über Inspiration sprechen. Ob Ukrainer und Polen, Ungarn und Serben, Bosnier und Bulgaren, Rumänen und Slowaken ... sie alle betrachten die Literatur als ein Produkt aus Handwerk und (inspirierter) Gottesgabe.
In England und Frankreich wird weit mehr über poetische Techniken und Verfahrensweisen, über handwerkliche Regeln und Baupläne sprechen. Osteuropäer dagegen reden ausgesprochen ungern übers Handwerk, sie lassen sich nicht in die Karten schauen, geben gerne zu, dass sie oft einfach unter dem Diktat einer Art »göttlichen Wahnsinns« schreiben, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht.

2. In allen Völkern Ost- und Südosteuropas spielten Sprache und Literatur eine identitätsstiftende Rolle. Beinahe alle Sprachreformatoren dieser Völker im 19. Jahrhundert waren begeisterte Herderianer.
Auch heute noch haben Herder und Wilhelm von Humboldt in diesen Kulturen eine ganz besondere Stellung inne. Polen zum Beispiel war für anderthalb Jahrhunderte von der Landkarte verschwunden; nur in der Sprache und der Literatur lebte es weiter. Die Sache mit den Sprachen kann auch groteske Ausmaße annehmen, wie jüngst auf dem Balkan. Wer aber selbst in den kleinen Sprachen lebt, kann diese Konfliktträchtigkeit irgendwie nachvollziehen. Dem Wort, der Literatur wird noch immer eine viel größere Bedeutung beigemessen als im Westen; sie als reine Unterhaltung, als individuelles Spiel oder dergleichen aufzufassen − dafür sind die Verhältnisse zu unstabil, die gesellschaftlichen Reglements zu unverlässlich, die Existenz schlechthin zu ungewiss. Literatur bringt eine persönliche Erfahrung zum Ausdruck, in der sich andere Menschen begegnen und finden, in der sie sich selbst, aber auch einander besser verstehen. Aufgrund ähnlicher historischer Erfahrungen sind sich Schriftsteller in Osteuropa bewusst, dass sich in ihrem Schreiben stets auch eine kollektive Erfahrung Form zu verschaffen sucht.

3. Osteuropa − das ist eine kleine Region mit lauter Unterschieden. Doch es gibt ein paar Gemeinsamkeiten: Die Länder östlich der Elbe haben im 20. Jahrhundert Revolutionen und den Kommunismus erlebt.
Ihre Kulturen gründen in ähnlichen historischen Erfahrungen: mehr Objekt als Subjekt der internationalen Politik zu sein. Daher befassen sich diese Literaturen mit der Frage, wie sich mit der Rolle des Außenseiters abfinden, wie mit den negativen Erfahrungen wie Gewalt, Heimatlosigkeit, Krieg umgehen, wie die radikale Umwälzung der Lebensverhältnisse beschreiben. Je schwerer die Stoffe, desto größer die Anstrengung, eine Form, eine Architektur, einen wahrhaftige Sprache zu finden. Ob wir an das Pathos denken etwa in den Werken von Ivo Andric und Jerzy Andrzejewski, die die Geschichte als Monster darstellen, ein Monster, das sich von menschlichem Fleisch, Blut und Leid ernährt, oder an die absurde Komik bei Witold Gombrowicz und Ivo Brešan, bei Jaroslav Hašek und Dušan Kovacevic − die Emotionen und die stilistischen Verfahren in dieser Literatur sind quasi immer auf der Suche nach Formen, die Erfahrung des Außenseiters, der Niederlage, der Ohnmacht literarisch zu artikulieren und zu verarbeiten. Für mich persönlich ist das größte Wunder der osteuropäischen Literaturen die unverwechselbare Selbstironie, das Lachen über sich selbst, der groteske Humor, wie bei Kafka und Hrabal, Charms und Bulgakow.

4. Eine weitere wichtige Erfahrung ist allen diesen Kulturen gemeinsam: Wir alle werden sehr oft exotisiert, finden uns als Wesen dargestellt, die in einer Welt leben, die niemals ein Kosmos, ein geordnetes Universum werden kann, weil sie außerhalb der Gesetze verharrt. Schon Shakespeare ließ seine Stücke, die mit dem Unmöglichen rechneten, in Böhmen spielen, und auch Schiller versetzte, wenn ich mich richtig erinnere, den ersten Teil seiner Räuber in den Böhmerwald, weil seine Figuren im ersten Teil Figuren noch ihren Idealen leben. Calderóns Das Leben ein Traum spielt in Polen, denn die unmögliche Handlung des Stückes wäre in Spanien zu unwahrscheinlich gewesen, und auch Alfred Jarry hat sich seinen König Ubu nur in Polen vorstellen können, denn soviel Absurdität und Parodie waren in Frankreich undenkbar.
Sogar der nette Herr Karl May, der es verstanden hat, Indianer als normale d.h. wirkliche Menschen darzustellen, hat den Balkan als eine exotische (unwirkliche) Welt inszeniert, jenseits aller Gesetzlichkeit existierend und aus Schluchten voller Wilder bestehend. Nicht einmal die Zeit vergeht in diesen Ländern: Byron ging nach Griechenland, um für Hellas zu kämpfen, und auch mein bewunderter Hölderlin kennt im Hyperion keinen Unterschied zwischen dem Griechenland des 19. Jahrhunderts und dem antiken Hellas. Nebenbei sei erwähnt, dass Goethe auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme war: Er hat sich keine exotische Welt konstruiert. Für ihn waren auch der islamische Orient (West-östlicher Divan) und sogar Süd-Ost-Europa (Klaggesang von der edeln Frauen des Asan Aga) ganz normale, wirkliche Welten, in denen vernünftige Menschen siedeln.

Werke von Dževad Karahasan

Einübung ins Schweben

25,00 €

Der nächtliche Rat

18,00 €

Tagebuch der Übersiedlung

24,00 €

Das Buch der Gärten

15,00 €

Ein Haus für die Müden

24,00 €

Tschewengur

32,00 €

Der Trost des Nachthimmels

16,00 €

Sara und Serafina

8,99 €

Die Schatten der Städte

17,80 €

Berichte aus der dunklen Welt

19,80 €
25,00 €
18,00 €
24,00 €
15,00 €
24,00 €

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Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählte zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dževad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz.
Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählte zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches...