Die eigentümliche Form von Phänomenologie, die im Frankreich der 30er Jahre entsteht, dieses Bemühen um eine Erweiterung der Vernunft, bildet einen Schmelztiegel, dessen Ideen über Jahrzehnte hin einen dominierenden Einfluß ausübten bis hinein in Literatur, Kunst und Politik. Selbst das, was in den 60er Jahren unter dem Stichwort »Strukturalismus« umgeht, ist über weite Strecken hin nur zu begreifen als kritische Transformation der Phänomenologie. Waldenfels‘ Darstellung setzt ein mit der...
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Die eigentümliche Form von Phänomenologie, die im Frankreich der 30er Jahre entsteht, dieses Bemühen um eine Erweiterung der Vernunft, bildet einen Schmelztiegel, dessen Ideen über Jahrzehnte hin einen dominierenden Einfluß ausübten bis hinein in Literatur, Kunst und Politik. Selbst das, was in den 60er Jahren unter dem Stichwort »Strukturalismus« umgeht, ist über weite Strecken hin nur zu begreifen als kritische Transformation der Phänomenologie. Waldenfels‘ Darstellung setzt ein mit der Rezeption der deutschen Phänomenologie, an der zahlreiche deutsche und osteuropäische Emigranten wie B. Groethuysen, G. Gruvitch, A. Gurwitsch, A. Kojève, A. Koyré und P.L. Landsberg ihren Anteil hatten und die selber Hand in Hand ging mit der Entdeckung Kierkegaards und einer Renaissance des Hegelianismus und Marxismus. Die bald beginnende Eigenproduktion findet ihre repräsentative Gestalt in den phänomenoliogischen Werken von Sartre, Merleau-Ponty, Lévinas und Ricœur, die am Ende jeweils in eine marxistische Anthropologie, eine strukturale Ontologie, eine dialogische Ethik und eine Hermeneutik der Symbole und Texte überleiten. Darüber hinaus wirkt sich die französischsprachige Phänomenologie in den verschiedensten Bereichen aus, in der Geschichtsphilosophie (Aron), der Religionsphänomenologie (Duméry) der Ästehtik (Dufrenne, G. Bachelard), in der Literaturtheorie (Genfer Schule), der Musiktheorie (Ansermet), der Epistemologie (Cavaillès, G. Bachelard, Desanti, Ladrière), in der Rechts- und Sozialphilosophie (Amselk, Goyard-Fabre, Castoriadis, Lefort) und, mit besonderer Vehemenz, in den Humanwissenschaften, denkt man an die Psychopathologie und Psychiatrie (Minkowski, Ey) sowie an die Psychoanalyse (Lagache, Hesnard, der frühe Lacan). Die Blütezeit wird abgelöst durch eine Umbruchsphase, die durch Namen wie Lévi-Strauss, Lacan, Althusser, Foucault und Derrida gekennzeichnet ist. Hier weitet sich die Kritik an der Phänomenologie aus zu einer Kritik an der Ethnozentrik, der Anthropozentrik und schließlich der Logozentrik des abendländischen Denkens. Die Phänomenologie gerät in einen Widerstreit, der über bloße Schulstreitigkeiten und Modewellen hinweg in die laufende Debatte von Rationalität und Modernität einmündet.
Mit S. Strasser: »Emmanuel Levinas: Ethik als Erste Philosophie«
Bernhard Waldenfels, geboren 1934 in Essen, ist Professor emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Für sein Werk wurde er u. a. mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis und dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis ausgezeichnet.
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