Als am 1. 11. 1970 vom Biological Computer Laboratory der Universität Illinois der Forschungsbericht No. 9.0 veröffentlicht wurde, da konnten nur Insider ahnen, daß damit dem Verfasser, dem chilenischen Physiologie-Professor Humberto R. Maturana, ein »genialischer Welt- und Seinsentwurf« (G. Roth) gelungen war. Maturanas Biology of Cognition wird heute mit Wittgensteins Tractatus verglichen.
In den eineinhalb Jahrzehnten seither haben sich die von der Kybernetik zweiter...
Als am 1. 11. 1970 vom Biological Computer Laboratory der Universität Illinois der Forschungsbericht No. 9.0 veröffentlicht wurde, da konnten nur Insider ahnen, daß damit dem Verfasser, dem chilenischen Physiologie-Professor Humberto R. Maturana, ein »genialischer Welt- und Seinsentwurf« (G. Roth) gelungen war. Maturanas Biology of Cognition wird heute mit Wittgensteins Tractatus verglichen.
In den eineinhalb Jahrzehnten seither haben sich die von der Kybernetik zweiter Ordnung beeinflußten Ideen Maturanas, Varelas, von Foersters, von Glaserfelds u. v. a. m. über Autopoiesis (Selbsterzeugung), Selbstorganisation und Selbstreferenz als äußerst fruchtbar erwiesen. Philosophen und Psychologen, Biologen und Neurophysiologen, Soziologen und Managementforscher, Sprach- und Literaturwissenschaftler, Juristen und Ethnologen, Psychotherapeuten und Kunstwissenschaftler haben auf diesen Grundlagen neue Konzeptionen ihrer Disziplinen entworfen und erprobt. Damit ist im interdisziplinären Dialog eine neue Art des Denkens entstanden, die zusammenfassend als Radikaler Konstruktivismus bezeichnet werden kann.
Der Radikale Konstruktivismus ermöglicht eine empirisch fundierte Alternative zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus, ohne dabei den modischen Trends irrationalistischer Wissenschaftskritik zu erliegen. Er führt in produktiver Weise über relativistische und skeptizistische Positionen hinaus, indem er nachweist, daß gerade die Subjektabhängigkeit unserer Wirklichkeitskonstruktionen unser erfolgreiches Handeln in einer sozial akzeptierten und scheinbar objektiven physikalischen Welt erklären kann. Er liefert Argumente für eine sinnvolle Überwindung europäischer Denktraditionen und verweist auf unsere volle Verantwortung für die natürliche und soziale Umwelt, in der wir leben.
Der vorliegende Band bietet eine einführende Übersicht über die wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus und zeigt an ausgewählten Beispielen ihre Anwendung und Weiterentwicklung in verschiedenen Disziplinen.