Dževad Karahasan ist 1953 als Kind einer muslimischen Familie in Duvno geboren, in Jugoslawien, einem Staat, den es nicht mehr gibt, in einer alten, in römischen Quellen auffi ndbaren Stadt, die ihren Namen gewechselt hat und jetzt, wie schon zwischen 1925 und 1945, nach dem mittelalterlichen ersten kroatischen König Tomislav heißt und von der ein aktuelles Lexikon weiß: »Es leben Wölfe, Schlangen und Bären in den Bergen rund um die Stadt. Tomislavgrad hat eine hohe Auswanderungsrate«. Leicht ließe sich aus dieser Herkunft Karahasans aus einem zerfallenen, in Kriegen untergegangenen Staat der Steckbrief eines Zeitzeugen herausschreiben. Eines Zeitzeugen, in dessen Wohnung in Sarajevo, wo er als Dozent an der Universität Dramaturgie lehrt, im Sommer 1992 ein Granatsplitter im Bücherschrank einschlägt und Faulkners Erzählungen ebenso halbiert wie Nadeshda Mandelstams »Furcht und Hoffnung« und eine alte, in einem Antiquariat in Zagreb erstandene Ausgabe von Kellers »Grünem Heinrich«, dessen mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek von einquartierten Neubewohnern größtenteils verheizt wird, nachdem er im Februar 1993 die Stadt verlassen hat und in Graz Dramaturgie lehrt und seine Theaterstücke, Essays und Romane schreibt, dort Stadtschreiber wird, der nach Kriegsende immer wieder nach Sarajevo zurückkehrt, eine bipolare Existenz führt, mal zwischen Graz und Sarajevo pendelt, mal zwischen Sarajevo und Berlin, wo er im November 2009 an der Humboldt-Universität seine Antrittsvorlesung als Inhaber der Siegfried-Unseld-Professur über Anton Tschechow als Komödienschreiber hält. Es wäre aber mit diesem Steckbrief des Zeitzeugen Dževad Karahasan, der den Zerfall der Nachkriegsordnung, in der er aufwuchs, erlebte, der gleichnamige Autor zwar ins Spiel gebracht, aber noch nicht recht ins Licht gestellt. Denn wenn ich in einem Satz sagen müsste, wofür ich Dževad Karahasan loben will, so wäre es dieser: dafür, dass sein Werk uns ein gültiges Bild des historischen Ortes gibt, aus dessen Erfahrung es herausgewachsen ist, dass es aber aus der Weigerung entstanden ist, sich von der Zeitgeschichte seine Sprache und Poetik diktieren zu lassen. Meine Laudatio besteht daher aus nichts anderem als dem Versuch, den Titel zu erläutern, den ich ihr gegeben habe: Der abwesende Zeitzeuge.
Die Laudatio auf Dževad Karahasan
hier in voller Länge lesen (PDF) »