Sirka Elspaß’ ich föhne mir meine wimpern, Christian Lehnerts opus 8. Im Flechtwerk, Marieke Lucas Rijnevelds Kalbskummer. Phantomstute und Maria Stepanovas Mädchen ohne Kleider zählen zu den Lyrik-Empfehlungen des Jahres 2023.
In der Empfehlung zu ich föhne mir meine wimpern von Sirka Elspaß schreibt Literaturwissenschaftler und Übersetzer Christian Metz: »Klingt wie ein Beauty-Tipp. Ist aber eine Form hochriskanter Selbstverletzung: ich föhne mir meine wimpern, das Debüt von Sirka Elspaß, lotet vom Titel an die Grenzen zwischen Schönheit, Liebe, Gefahr und Verletzbarkeit aus: ›ich will eine narbe die aussieht / wie du‹. Virtuos überblendet Elspaß verschiedene Tonlagen und Register. Sätze, als wären sie der Twitter-Zirkulation entrissen: ›ich schaue mir sehr lange meine socken an / und dann / auch dein gesicht‹. Sprachfetzen aus der Selbsthilfegruppe: ›einen körper zu haben bedeutet enorme verantwortung / und niemand kommt auf die welt / und weiß wie es geht‹. Trivialitätsphantasien mit fieser Pointe: ›in der gruppe für menschen mit essstörung / spricht jemand einen toast aus / auf das leben‹. Und dazu liefert Elspaß auch noch kluge Reflexion: ›die tränen einfach laufen lassen / ist auch so ein abgefahrenes konzept / das ich lange nicht verstanden habe‹. Tränen laufen lassen, wie man einen Dieb laufen lassen könnte, statt ihn zu fassen? Elspaß verwischt die Grenzen zwischen Parodie, Ironie und Ernsthaftigkeit. Über viele Jahre gereifte, unbedingt bestaunenswerte Poesie.«
Christian Lehnerts opus 8. Im Flechtwerk wird von der Autorin Nora Bossong empfohlen: »Christian Lehnerts Gedichte sind Meditationen über die Schöpfung und über das, was die Natur uns offenbart, wenn wir es wagen, uns ihr unverstellt anzunähern. So streng die Texte in diesem Band durchkomponiert sind, so frei entfalten sie uns das Wunder des Seins und Werdens und schulen unsere Wahrnehmung unserer sich transformierenden Umwelt. Miteinander verflochten sind nicht nur die Zeilen, sondern das Leben selbst, das sich in Lehnerts an die Wurzel gehenden Betrachtungen in Sporen wie im Schwelbrand, im Walgesang wie in einem Schwarm Winterbienen zeigt. Sie scheinen dabei immer der Frage nachzugehen: ›Was nährt den Lichtschein / den ich in mir trage?‹ opus 8 ist in seiner religiösen Zartheit und Zeitlosigkeit ein wohltuend stiller und versöhnender Gegenpol zu der lauten Meinungsmaschinerie der Gegenwart.«
Daniela Strigl, Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin, schreibt über Marieke Lucas Rijnevelds Kalbskummer. Phantomstute: »Die Fragen, denen sich ein geschlechtlich volatiles Ich in diesen episch ausgreifenden Gedichten stellt, sind von existenzieller Wichtigkeit, immer dringlich, meist komplex, mitunter schlicht: ›Warum bin ich auf der Welt? Warum / haben Donuts Löcher? Warum verwirrt es Schnecken nicht, dass sie / zweigeschlechtlich sind? Warum raste ich so schnell aus?‹ In immer wieder verblüffenden Bildern, Szenen und Gedankensprüngen beleuchtet Marieke Lucas Rijneveld das Erwachsenwerden auf dem Lande, Körpernöte und Sensationen, die Suche nach Haus und Zuhause und dem Kern des Wohlbefindens, das Leben mit Tieren, verständigen und unverständigen Menschen, den Tod. Die Übersetzung von Ruth Löbner folgt der prosaischen Spröde wie der opulenten Phantasie, der zärtlichen Grausamkeit und dem unerhört beweglichen Blick, von tiefer Traurigkeit zu aberwitziger Lakonik – ›Warum wir nicht fallen‹: ›Hochhäuser sind über die ganze Stadt verteilt wie Sprungbretter. Der kleine / Moment des Schwebens ist zu kurz, als dass er die Landung wert wäre.‹«
In der Empfehlung zu Maria Stepanovas Mädchen ohne Kleider von Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann heißt es: »Drei Gedichtzyklen sind in diesem schmalen Band versammelt: ›Mädchen ohne Kleider‹, ›Kleider ohne uns‹ und ›Bist du Luft‹. Es sind liedhafte Gedichte. Sie klingen und erzählen von der Kolonisierung des weiblichen Körpers, vom pornographischen Blick, dem Weggeworfenund Ausgeliefert-Sein, globalen Wertschöpfungs ketten, (alb) traumhaften Landschaften. Die 1972 in Moskau geborene und heute im Berliner Exil lebende Maria Stepanova befreit die Sprache von falschem Schmuck und Dekor. Sie geht dabei wie eine Forensikerin vor: ›Immer ist da ein Pornoheft, immer ist es / Versiegelt mit züchtigem Zellophan, / Wie um zu sagen: Vor dir gab es keinen.‹ Maria Stepanova schält, säubert und poliert die Worte, bis sie wie blanke Knochen glänzen. ›Immer ist da ein Zimmer mit einer waagrechten / Fläche, immer stehst du darin wie ein Baum, / Liegst wie ein Baum, wie umgestürzt immer / Die tauben Zweige hoch überm Kopf, / Erde zwischen den Fingern, Finger im Mund, / Deine Äpfel hast du nicht gehütet.‹«
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die Stiftung Lyrik Kabinett, das Haus für Poesie und der Deutsche Literaturfonds geben in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband einmal jährlich eine Empfehlungsliste von Lyrik-Neuerscheinungen heraus. Die Jurymitglieder wählen deutschsprachige und ins Deutsche übersetzte Gedichtbände aus, die sie für besonders empfehlenswert halten. Die ausgewählten Gedichtbände werden zum Welttag der Poesie am 21. März in über 350 Buchhandlungen und Bibliotheken bundesweit präsentiert.